Dynamisch entscheiden?

Warum uns Entscheidungen in einem stark dynamischen Umfeld Probleme bereiten

Die Covid-19 Pandemie hat uns 2020 und 2021 nachdrücklich vor Augen geführt, dass die meisten wirtschaftlichen und politischen Entscheidungen auf statischen Modellen beruhen. Obwohl in Österreich auch die Komplexitätsforschung mit in die Entscheidungsfindung einbezogen wurde, fehlt weiterhin eine umfassende Analyse in Bezug auf dynamische Entscheidungsfindung. Dabei wären die Grundlagen dafür bereits seit mehreren Jahrzehnten vorhanden (vgl. Edwards, 1962). Denn es macht einen Unterschied, ob das Gesamtmodell auf den Regeln konventioneller Entscheidungsfindung beruht, oder ob dazu beispielsweise sogenannte Mikrowelten herangezogen werden, die ständig verändernde Parametern mit einbeziehen.

Worin besteht jedoch der wesentliche Unterschied zwischen statischen und dynamischen Modellen?

In der Statistik werden für gewöhnlich Daten aus der Vergangenheit gesammelt, um daraus Modelle für die Zukunft zu entwickeln. Fortgeschrittene Varianten beziehen bereits bayesianischen Ansätze mit ein, die Erwartungswerte an aktuelle Veränderungen anpassen. Dazu stellen sich wesentliche Fragen: Sind die zugrunde liegenden Daten vollständig und repräsentativ? Ist das angewendete Verteilungsmodell mit der jeweils aktuellen Zustandsverteilung in Einklang zu bringen? Handelt es sich beispielsweise um eine lineare, exponentielle oder gar eine Power-Law-Verteilung? Selbst bei korrekter Anwendung des Verteilungstyps ist die Basis immer noch ein Datensatz aus der Vergangenheit.

In einer sogenannten Mikrowelt lassen sich nun verschiedene Zukunftsszenarien modellieren, die nicht nur die vergangenen Daten berücksichtigen, sondern auch Prognosemodelle mit gegenwärtigen Entscheidungsmustern in Einklang bringen. Vereinfacht gesagt: Wenn der Zustand eines Ereignisses auf Basis vergangener Entscheidungen in Zukunft die Ausprägung A hat, welche Auswirkungen hat dann die Entscheidung der Gegenwart auf diese Ausprägung? Bernd Brehmer (2005) bietet einen guten Überblick über die wissenschaftliche Analyse solcher Mikrowelten und der zirkulären Beziehung zwischen Menschen und Umwelt. Die Psychologie der Entscheidung erweitert dabei ihren Betrachtungshorizont:

„That is, micro-worlds are designed to enable one to study the interaction among different psychological functions, not functions in isolation,“ (Brehmer, 2005)

Wir können somit verschiedene psychologische Funktionen zueinander in Beziehung setzen, die sonst nur isoliert betrachtet werden. Das ist gleichzeitig auch der zentrale Vorteil in der dynamischen Entscheidungsfindung. Dadurch lässt sich unser Bezugsrahmen erweitern und auch zur Reduktion von Komplexität beitragen.

Eine Pandemie ist im übertragenen Sinn mit einem globalen Waldbrand zu vergleichen. Exakt für solche Situationen sind Mikrowelt-basierte Entscheidungsmodelle geeignet. Was kennzeichnet nun eine solche dynamische Situation (vgl. Brehmer und Allard, 1991)?

  1. Sie erfordert eine Reihe an (seriellen) Entscheidungen
  2. Die Entscheidungen sind nicht unabhängig voneinander
  3. Die Problemsituation ändert sich, sowohl autonom als auch infolge der Entscheidungshandlungen
  4. Die Entscheidungen müssen in Echtzeit getroffen werden

Eine der größten Herausforderungen im Umgang mit dynamischen Systemen ist die Verzögerungswirkung. Manche Entscheidungen wirken sich nicht unmittelbar aus, sondern erst nach einer gewissen Zeitspanne. Am Beispiel der Covid-19-Pandemie lässt sich dieser Umstand sehr einfach belegen: im Vergleich schneiden jene Länder am besten ab, die sich proaktiv für Restriktionen entscheiden, sobald sich eine Welle aufbaut. Am Höhepunkt der Entwicklung sind diese Länder mit deutlich geringeren Inzidenzen erfolgreich. Jene Länder hingegen, die sich erst spät, bei stark steigenden absoluten Fallzahlen, für einschneidende Maßnahmen entscheiden, können den Höhepunkt der Welle erst auf deutlich höherem Niveau stabilisieren.

Somit geht es in der Modellierung wesentlich darum, jene Variablen zu identifizieren, die maßgeblich zur dynamischen Entwicklung der unterschiedlichen Zustände beitragen. Es ist beispielsweise wenig hilfreich, bei der Covid-19-Pandemie nur auf die 7-Tages-Inzidenzen oder gar nur auf die Belegung der Intensivbetten zu achten. Ein wesentlicher Faktor besteht unter anderen auch in der Berücksichtigung der tatsächlichen Behandlungskapazitäten, um allen Patienten (nicht nur den Covid-19-Kranken) einen hohen Behandlungsstandard zu garantieren. Bei vorausschauender Betrachtung muss daher auf die qualitative Beurteilung der Personalsituation geachtet werden, die eine systemkritische Auslastung z. B. in der vierten Welle viel früher wahrscheinlich macht als zu Beginn der Pandemie.

Zusammenfassend lassen sich nach Brehmer zwei Problembereiche definieren, die eine dynamische Entscheidungssituation charakterisieren:

  • Die Überschätzung des Hier-und-Jetzt. Die derzeit verfügbare Information wird repräsentativ als Zustandsbeschreibung für das aktuelle System herangezogen
  • Ein Mangel an Systemdenken führt zum Ausblenden von Seiteneffekten. Die fehlerhafte Sichtweise besteht darin, dass eine Handlung immer nur einen Effekt erzielt.

Brehmer zieht daraus den folgenschweren Schluss, dass viele Entscheidungs-Modelle fehlerbehaftet sind und zu Überraschungen führen:

„A consequence of this is that the subjects constantly get surprises, both because their decisions do not have the effects that they intend (because they are making them on the basis of information that is outdated) and because the decisions have effects that they did not intend (because they did not take possible side effects into account).“ (Brehmer, 2005)

Simulationsmodelle wie Mikrowelten können dazu beitragen, diese Fehler zu vermeiden oder zumindest zu reduzieren. Wenn Entscheidungsträger mit Zeitverzögerungen und Seiteneffekten nicht optimal umgehen können, so sollen sie doch zumindest angemessen darauf reagieren können.

Autor: Peter Schaden, Wien 2021

Literaturverweise:

B. Brehmer (2005) Micro-worlds and the circular relation between people and their environment, Theoretical Issues in Ergonomics Science, 6:1, 73-93

Brehmer, B. and Allard, R.(1991) Real-time dynamic decision making: the effects of task complexity and feedback delay. In Distributed Decision Making: Cognitive Models of Cooperative Work, edited by J. Rasmussen, B. Brehmer and J. Leplat, pp. 319–347. (Chichester: Wiley)

Edwards, W. (1962) Dynamic decision theory and probabilistic information processing. Human Factors, 4, 59-73